Hiermit fange ich eine neue Geschichte an (ist ja wohl offensichtlich^^). Ich wollte einen anderen Schreibstil ausprobieren, und deshalb würde ich mich natürlich besonders freuen, wenn ich Feedback bekäme. Ich bin immer offen für Kritik und neue Ideen!

Ach ja, falls es irgendwelche Fragen betreffend irgendwelcher Worte oder Aussagen gibt, stellt sie ruhig. Ich weiß oft nicht, welche Worte Nichtmusikern bekannt oder unbekannt sind, da sie mir selber in Fleisch und Blut übergegangen sind.

DARKBLUM

Andrea Göppel


Kapitel I

Ein lautes Trommeln dringt in mein Ohr, als ich langsam beginne, aufzuwachen. Uuurgs. Beat übt wohl mal wieder. Oder schon wieder. So sicher kann man sich bei der Frau nie sein. Wahrscheinlich war sie die ganze Nacht auf und hat ihre blöden Rhythmen geübt, und dass, obwohl sie nicht einmal ein Schlagzeug in ihrer Wohnung stehen hat. Bei ihr halten dann immer die Töpfe her. Was das ganze noch unangenehmer macht. Ich grummele und versuche, meinen Kopf tiefer unter das Kissen zu stecken, doch ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es sich nicht wirklich lohnt, wieder schlafen zu gehen – in zehn Minuten müsste ich sowieso aufstehen. Ach, verdammt. Echt, irgendwann fessle und knebele ich diese hyperaktive Schlagzeugerin und sperre sie irgendwo ein! Das ist ja nicht zum Aushalten!

Missmutig richte ich mich auf und stelle meine Füße auf den kalten Boden. Ein Schaudern durchfährt meinen Körper; es gibt nichts, was ich mehr hasse als morgens aus dem schönen warmen Bett zu kriechen. Aber es hilft nichts, die Arbeit ruft, also muss ich mich wohl oder übel fügen.

Die anderen beiden sind schon in der Küche. Seltsam, nun lebe ich schon seit fast einem Jahr mit denen zusammen in einer Wohnung, aber so richtig dran gewöhnt hab ich mich immer noch nicht. Vor allem an Beat; diese Frau ist einfach zu seltsam. Sie läuft rum wie ein Hippie, denkt an nichts anderes als an Schlagzeugspielen, aber auf einmal gibt sie Sachen von sich, die man sonst nur von einem renommierten Mathematikprofessor erwarten würde. Ein wandelndes Paradox.

Naja, Beat ist gerade wieder dabei, mit ihren Sticks auf sämtlichen Pfannen und Töpfen rumzutrommeln, während Sonja sich daneben in aller Ruhe ein Brot streicht. Ah ja, Sonja, Der ruhige Punkt in unserer kleinen Wohngemeinde. Ich weiß nicht, wie sie es schafft, aber sie lässt sich weder von Beat's konstantem Getrommel, noch von meinen abrupten Stimmungsschwankungen aus der Ruhe bringen. Vielleicht liegt es daran, dass sie die Älteste ist, vielleicht ist ihr aber auch nur einfach alles scheißegal. So genau kann man das bei ihr nicht sagen.

Man sollte meinen, dass ich meine Mitbewohner besser beurteilen kann, nachdem ich nun schon solange mit ihnen zusammenlebe, nicht? Tja, weit gefehlt. Klar, wir mögen zusammen wohnen, wir spielen sogar in derselben Band (andersrum gesagt: die Band besteht nur aus uns drei und ist der eigentlich Grund, weshalb wir zusammenleben), aber jeder von uns hat seine kleinen Geheimnisse, von denen die anderen nichts wissen. Ist mir auch recht so, denn mir selbst wäre es unangenehm, wenn die anderen ihre Nasen in meine Vergangenheit stecken würden.

Ich schüttle meinen Kopf und geselle mich zu den beiden anderen an den wackligen Tisch. Ich denke nicht gerne an meine Vergangenheit – zu viele schmerzhafte Erinnerungen.

„Guten Morgen," Sonja lächelt mir zu und nippt an ihrem Kaffee. Beat verdreht den Kopf und grinst mir zu, für einen Moment schweigen die beiden Sticks und wohltuende Ruhe senkt sich über den Raum.

„Tadaa!" grüßt sie mich, und ich muss mich schwer beherrschen, um nicht meine Augen zu verdrehen. Beat benutzt nie übliche Formulierungen, sondern eigene Wortkreationen, die ihr des Öfteren schräge Blicke einbringen. Manchmal frage ich mich ernsthaft, ob die Spanierin noch alle Tassen im Schrank hat. Aber sie ist eine super Schlagzeugerin, deshalb übergehen wir diese kleinen Eskapaden meist, ohne darüber zu sprechen.

„Morgen," ich schnappe mir einen Stuhl und setze mich hin, ein leichtes Gähnen unterdrückend. Mann, bin ich müde! Geschieht mir wohl auch recht, nachdem ich bis drei Uhr nachts an der neuen Melodie rumkomponiert hab. Ich sollte nicht solange aufbleiben, wenn ich am nächsten Tag arbeiten muss, aber wenn mich eine Melodie ergreift, dann kann ich einfach nicht mehr ruhen, bis ich sie aufgeschrieben hab.

Das ist übrigens mein Job in unserer Band. Lieder komponieren. Und natürlich singen. Leider hab ich eine Sopranstimme, und sie eignet sich nicht sonderlich für die Art von Musik, die ich meistens komponiere, aber ich bin die einzige, die wirklich gut singen kann. Ohne angeben zu wollen, natürlich. Beat muss sich so auf das Schlagzeugspielen konzentrieren, dass sie nur Nebenstimmen singen kann, und Sonja hat zwar eine schöne Stimme und trifft auch den Ton, aber ihr fehlt die Überzeugungskraft. Ihr Gesang ist einfach….zu brav.

Ich versuch ja schon lange, die anderen davon zu überzeugen, dass wir noch ein viertes Mitglied brauchen, aber leichter gesagt als getan. Wir haben einfach kein Glück. Na ja, als ob ich jemals Glück gehabt hätte in meinem Leben.

Wenigstens kann ich Musik machen, dann bin ich zufrieden. Meistens jedenfalls.

„Irgendjemand muss heute einkaufen gehen.", Sonja unterbricht meine trüben Gedanken. Ich stöhne, als ich mir den leeren Kühlschrank in die Erinnerung zurück rufe. Wie wahr, unser kleiner Haushalt hat neue Lebensmittel aufs dringendste nötig.

„Beat hat doch heute Morgen frei, oder nicht?" Meine Augen wandern zu dem letzten Stück Toastbrot und ich reiße es mir unter den Nagel, bevor es sich jemand anders nehmen kann. „Dann kann doch sie gehen, oder nicht?"

„Jaaaaaa……" Beat fängt wieder an, auf den Tisch zu trommeln, einem für uns unhörbaren Rhythmus folgend.

„Beat, gehst du einkaufen? Wir brauchen Milch, Eier, Kartoffeln, Nudeln und noch ein paar andere Sachen." Mensch, Sonja ist wirklich geduldig. Wie macht die das nur?

Beat wippt nur mit dem Kopf. „Ooookayyy….."

Warum sie die Silben dermaßen in die Länge zieht, ist mir ein Rätsel. Wirklich, man kann nicht glauben, dass sie ihre 19 Jahre alt ist! Genauso alt wie ich, wenn man es recht bedenkt, aber ich glaube nicht, dass ich mich jemals so seltsam benehme. Hmm.

„Bring auch Kaffee mit, der ist schon wieder fast alle.", weise ich sie an. Kaffee ist sehr wichtig, vor allem, wenn man die Nächte wieder einmal vor dem Keyboard und mit der Gitarre verbringt. Der Song, der dabei entstanden ist, ist wohl ziemlich seltsam, aber na ja, was will man machen? Ich kann keine guten Texte schreiben, ich kann nur komponieren. Aber das macht nichts, meist hilft Beat mir noch beim Songschreiben. Lacht nicht. So seltsam sie auch sein mag, sie hat echt ein Talent mit Worten. Fragt mich nicht woher.

Ich beiße in meinen Marmeladetoast und verziehe das Gesicht. Total verbrannt. Ach ja, ich vergaß, unser Toaster ist ja kaputt. Seit ungefähr einer Woche. Argh. Der Tag fängt ja echt gut an!

"Proben wir heute abend?"

Sonja stellt ihre Tasse auf den Tisch und streicht sich ihr langes, rötliches Haar hinter die Ohren. „Müssen wir wohl, immerhin haben wir am Wochenende einen Auftritt. Unten in der Weststadt."

„Ach so, du meinst im ‚Black Garden'? Der Club in der Weststadt?" Ich schiebe den Rest des Toast in meinen Mund und kaue hungrig.

„Genau." Sonja nickt. "Wir sind schon zweimal dort aufgetreten, und die machen so eine Themenparty. Das heißt, wir sollen lauter Hits spielen, nicht unsere eigenen Lieder. Bekannte Sachen halt. Wie üblich. Na ja, immerhin werden wir bezahlt."

Es fällt mir schwer, ein Seufzen zu unterdrücken. Wann werden uns die Clubs endlich mal bezahlen, damit wir unsere eigenen Songs spielen? Es ist zwar ganz lustig, alte Renner wie ‚I will survive' zu spielen und zu singen, aber es sind eben nicht unsere eigenen Songs. Ich möchte, dass die Leute toben, wenn wir etwas selber Komponiertes spielen, aber bis jetzt haben wir noch nicht mehr bekommen als höflichen Applaus. Ist irgendwie frustrierend auf die Dauer.

Aber wie Sonja gesagt hat, immerhin kriegen wir Geld und es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Irgendwann schaffen auch wir mal den Durchbruch, ganz bestimmt! Und ich werde nicht eher aufgeben, als bis wir das geschafft haben!

„Habt ihr eigentlich noch kurz Zeit?" Ich wische mit meinen Mund ab und blicke zu den anderen. Beat hat ja sowieso den Vormittag frei, bei ihr ist die Frage also überflüssig, und Sonja lächelt mir nur kurz zu. Ja, sie hat Zeit. Gut. Dann kann ich ihnen noch schnell meinen neuesten Song präsentieren. Ich rase also in mein Zimmer, schnappe mir meine voll geschriebenen Notenblätter und meine Gitarre und kehre wieder in die Küche zurück.

„Die Idee dazu ist mir gestern gekommen." erkläre ich und lege ihnen eine geschriebene Version vor die Nase. Dann stimme ich vorsichtig meine Gitarre ein. „Natürlich fehlen noch die ganzen Grundlinien wie Bass und Schlagzeug, außerdem bin ich mir an manchem Stellen über die Harmonie noch nicht ganz klar, aber die Hauptmelodie steht. Hört einfach zu und sagt mir, was ihr denkt! Also, als erstes kommt ein Opening – da wird nicht gesungen, sondern nur geflüstert, begleitet von dem leisen Summen der Gitarrensaiten." Ich schließe meine Augen und fange an, mit monotoner Stimme zu flüstern.

"Death on the floor

Dead flowers

Dead people

Death in the world

Dead is everywhere

Can you see them dying?

Can you hear the memories?

And the silent tears are falling

are falling

are falling…."

„Dann fängt das Lied gleich mit der ersten Strophe an – es sollte sich düster und traurig anhören." Ich fange an zu singen, verliere mich in der Melodie, die sich seltsam melancholisch, aber auch irgendwie wütend und verzweifelt anhört.

"When your dead body fell to the ground one year ago

I was shaking of fear, I felt alone,

Looked at the gun I was holding in my hand

Not realising what I had done

Or that it would never mend

When the blood spilled on the ground

Staining the flowers, crimson colour

I started crying, started sobbing

Started calling your name, shaking your body

But you didn't respond, were lost, were gone

Can you see the flowers dying?

Can you see the people crying?

Is it only me who notices the grey

Is it only me who feels like prey?

Everyone is laughing, smiling, happily

Acting like a big, grand family

Only me, who's not a part of this,

Only me, feeling like a big misfit

When the gun shattered to the ground, metallic, noisy

Somebody shouted, a high-pitched scream

And it took me a while to realise that it was me

The gun was lying in a pool of blood

So red, so nice, blood of you

Then they came and took me away

Asked me questions I couldn't answer

They searched through your body and examined the wound

cleaned the blood from the ugly, grey ground

And I was still sobbing, like a child, left alone

Can you see the flowers dying?

Can you see the people crying?

Is it only me who notices the grey

Is it only me who feels like prey?

Everyone is laughing, smiling, happily

Acting like a big, grand family

Only me, who's not a part of this,

Only me, feeling like a big misfit

Now I'm here, watch how the colours are fading

My life has gone, the mirror is broken

The once white flowers are dying

Like you died back in that night one year ago

Their leafs are falling to the ground

I don't know why I pulled the trigger

I'm afraid because I liked seeing the blood

I don't know what happened

But I know, I know, that I feel sorry

I didn't want to see the flowers dying…

Because they are prettier when they live…"

Ich schließe die Augen, spüre, wie die Saiten der Gitarre unter meinen Fingern vibrieren und schaue dann den anderen beiden ins Gesicht. Sonja hat einen nachdenklichen Gesichtsausdruck im Gesicht, während Beat schon den Text überfliegt und hier und da Verbesserungen einträgt.

„Nicht schlecht," meint sie dann, Beat beobachtend, die wieder einmal alles um sich zu vergessen scheint. „Die Melodie ist echt ergreifend, aber ich glaube nicht, dass wir das überzeugend rüberbringen könnten."

„Ich weiß schon," erschlagen lasse ich mich auf den Stuhl plumpsen. „Uns fehlt eine tiefe Stimme, meine Stimme ist viel zu hoch für solch ein ernstes Lied. Und sie trägt nicht weit genug." Wieder einmal verfluche ich mein Schicksal, welches mich mit dieser zu hohen Sopran-Stimme plagen musste. Wäre ich doch nur Alt, oder noch besser, Tenor, so könnte ich diese traurigen Lieder viel besser rüberbringen!

„Ich hab da auch schon eine Idee, wie man das effektiv als Duett einarbeiten könnte, aber wie gesagt – uns fehlt der vierte Mann. Oder die vierte Frau, je nachdem."

Sonja nickt nachdenklich. „Wir finden da schon jemanden. Auch wir haben uns gefunden, also müssen wir einfach weitersuchen und auf unser Glück hoffen." Sie steht auf und stellt ihre Tasse in die Spüle. „Ich muss jetzt dann zur Arbeit, aber heute Abend in der Probe können wir das ja mal einstudieren, nachdem wir für den Auftritt geübt haben. Das meiste ist ja aus dem alten Repertoire, das müsste ja klappen." Sie schnappt sich ihre Jacke und ihren kleinen Rucksack, winkt uns noch einmal zu, erinnert Beat ein letztes Mal daran, auch wirklich einkaufen zu gehen und verlässt unsere kleine Wohnung.

Seufzend ziehe ich mich in mein kleines Zimmer zurück, froh über das bisschen Privatsphäre. Da wir alle drei arbeiten, können wir uns eine Wohnung leisten, die groß genug ist, so dass jeder ein eigenes Zimmer hat. Ganz am Anfang musste ich mir ein Zimmer mit Beat teilen, und das war echt die Hölle. So nett sie sein kann, wenn man sich die ganze Zeit auf der Pelle hockt, geht man sich irgendwann an die Gurgel.

Ich lege meine Gitarre vorsichtig auf das Bett und öffne meinen Schrank. Da ich als Bedienung in einem Café arbeite, muss ich immer einigermaßen repräsentabel aussehen, was mir aber nichts ausmacht, da ich es mag, mich elegant zu kleiden. Ich könnte jedenfalls nie wie Beat in Badelatschen, geringelten Tops und quietschgelben Hosen rumlaufen. Zur ihr passt es, denn sie arbeitet als Verkäuferin in einem Hippie-Laden, aber ich würde einfach nur dämlich aussehen.

 Da heute die Sonne scheint, nehme ich eine leichte, schwarze Hose und eine weiße Bluse. Einfach und schlicht, dabei aber elegant und seriös. Meine kurzen, blonden Haare föne ich schnell richtig hin und lege ein bisschen Make-up auf – nicht viel, ich mag es nicht, wenn das Gesicht so überladen wirkt, nur ein bisschen, damit ich nicht ganz so durchschnittlich aussehe.

„Ich geh dann jetzt!", schreie ich zu Beat, die immer noch am Küchentisch sitzt. Sie scheint mich nicht zu hören, aber das ist auch nichts Neues. Der Tag draußen ist sonnig, und ich spüre schon, wie sich meine Stimmung hebt beim Anblick der goldenen Bilder, welche die Morgensonne auf den Asphalt malt. Leise vor mich hin summend (die Melodie von dem neuen Stück ‚Dead Flowers' geht mir einfach nicht aus dem Kopf!) springe ich die Treppen hinunter und mache mich auf den Weg zur Arbeit.

~~~~~~~~

In einem Café zu arbeiten ist eigentlich gar nicht so schlecht. Meine Kolleginnen sind nett, und die meisten Kunden sind höflich und geben gutes Trinkgeld. Es ist jedenfalls um Klassen besser, als in einem Supermarkt zu arbeiten, das hab ich früher schon getan. Ich mag es, mit Leuten zusammen zu sein, sie zu beobachten und mir Gedanken über diese Menschen zu machen. Es ist faszinierend, aber während man die Cappuccinomaschine bedient, kommen einem die seltsamsten Ideen.

Es ist kein Job, den ich auf ewig machen würde – ich habe immer noch die feste Absicht, mich einmal von der Musik ernähren zu können – aber da unsere Gagen momentan gerade mal reichen, um die Unkosten des Auftritts zu bezahlen, werde ich wohl oder übel noch länger so arbeiten müssen. Es gibt schlechtere Jobs, wirklich. Die Bezahlung ist gut, die Leute sind in Ordnung, der Chef ein bisschen grimmig, aber ansonsten ist alles okay. Am Abend tun mir zwar die Füße weh, doch damit muss man klarkommen. Blasen gehören zu meiner Standardkrankheit heutzutage.

Als ich klein war, wollte ich immer Pilotin werden. Das war noch, bevor ich anfing zu musizieren und meine Faszination für alles Musikalische entdeckte. Ich muss lächeln bei dem Gedanken an meine erste Klavierstunde. Ich wollte gar nicht – meine Eltern zerrten mich dorthin, der festen Meinung, dass ich mich bilden sollte, und Klavierunterricht sei eben ein Muss. Ziemlich altmodisch, meine Eltern. Na ja, zuerst fand ich das schrecklich, ich wollte nicht stillsitzen und blöde Tasten drücken. Aber dann spielte mir mein Lehrer ein Lied vor – ich weiß nicht mehr, wie es hieß, aber ich erinnere mich noch genau daran, wie ich gebannt auf seine Finger starrte. Die schmalen Hände flogen über die weißen und schwarzen Tasten, eine elegante Bewegung, und auf einmal glitt eine wunderbare Melodie durch den Raum.

Natürlich hatte ich davor schon Aufnahmen von Konzerten gehört, aber so in echt ist das doch etwas anderes. Ich konnte regelrecht fühlen, wie mein Lehrer seine ganze Ausdruckskraft in die Töne hineinlegte, dem geschriebenen Notentext ein Leben gab. Von da an war ich fasziniert. Bald darauf entdeckte ich den Gesang, der mich noch mehr mitriss als die reine Instrumentalmusik, den mit der Stimme lassen sich noch viel mehr Gefühle ausdrücken als mit einem Instrument.

Und bis heute hat mich diese Faszination nicht losgelassen. Ich glaube, ich bin süchtig geworden. Ohne die Musik kann ich nicht leben; habe ich irgendwelche Probleme, so ziehe ich mich mit meiner Gitarre oder meinem Keyboard in irgendeine stille Ecke zurück und beginne zu spielen. Ob es den anderen genauso geht? Manchmal wundere ich mich, was Beat wohl denkt, wenn sie wieder mal gedankenverloren auf ihrem Schlagzeug spielt. Vielleicht ist es die Musik, die uns alle noch zusammenhält, obwohl wir so verschieden sind.

„Guten Tag, was darf ich ihnen bringen?" Ich lächle, grüße den Gast, der sich gerade eben an einen kleinen Tisch gesetzt hat. Ein ältlicher Mann, der jeden Morgen um die gleiche Zeit kommt und einen Kaffee bestellt. Üblicherweise liest er Zeitung, hat aber immer in freundliches Lächeln für uns Bedienungen bereit. Ich hab ihn gern; wir reden nie viel miteinander, aber er ist einfach nett und freundlich und betrachtet es nicht als selbstverständlich, dass wir ihm das Zeugs an den Tisch schleppen.

„Das übliche, bitte." Er nickt und lächelt, und wieder habe ich das seltsame Gefühl, meinem Großvater gegenüberzustehen. Ich habe keine Großeltern mehr, aber dieser Mann strahlt eine Wärme aus, die einen gleich geborgen fühlen lässt – so hatte ich mir einen Großvater immer vorgestellt.

„Kommt sofort!" Wieder vor mich hin summend, mache ich mich an die Arbeit. Kathrin, meine Kollegin, lehnt sich neben mich an den Tresen. Morgens ist niemals so viel los, deshalb ist es zu dieser Zeit noch relativ entspannt.

„So fröhlich heute?"

Ich lache und nehme eine Tasse aus dem Regal. „Ja, die Sonne scheint, ich hab ein neues Lied komponiert und bin generell einfach nur gut gelaunt. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich zuwenig Schlaf bekommen habe."

„Du bist gut gelaunt, wenn du zuwenig Schlaf bekommst?"

„Ja, denn dann trinke ich Kaffee und bin hyper!"

Kathrin schüttelt nur den Kopf. „Ich würde wahrscheinlich meine Augen nicht mehr aufkriegen." sie zwinkert mir zu. „Aber ein neues Lied, sagst du? Dann dauert's ja wohl nicht mehr lange, bis ihr endlich mal groß rauskommt, oder nicht? Ich sollte mir wohl besser ein Autogramm besorgen!"

„Haha." Kathrin weiß von unserer kleinen Band und kommt auch öfters zu unseren Live-Auftritten. Sie zieht mich immer auf, weil uns der Erfolg einfach ausbleibt und ist der festen Meinung, dass wir unseren Musikstil ändern sollten (‚Ihr spielt viel zu traurige Sachen, spielt doch was fetziges, das kommt an!'). Aber meist nehme ich es ihr nicht böse; ich habe längst gelernt, die Dinge nicht so verbissen zu sehen.

„Ich sag's ja immer wieder, ihr seid einfach zu düster!" Sie wischt die Theke ab, während ich den Kaffee fertig mache. „Schon allein euer Name! Wirklich, von einer Mädchengruppe erwarten die Leute, dass sie fröhliche Lieder singen, und nicht dieses komische Zeugs, dass ihr von euch gebt!"

„Ich finde unseren Namen in Ordnung!", verteidige ich unsere kleine Band.

Kathrin rollt mit den Augen und hält mit dem Putzen inne. „Ach, echt? ‚Darkblum'? Für mich klingt das eher, als ob ihr diesen Namen im Suff ausgewählt hättet! Entweder Deutsch oder Englisch, aber nicht so ein schreckliches Gemisch. Was soll das eigentlich bedeuten?"

„Naja, Dark Flowers hat sich blöd angehört, und wir wollten irgendeinen ungewöhnlichen Namen, also haben wir eben diesen genommen."

Die Wahrheit ist ja, dass uns damals einfach nichts Besseres eingefallen ist, aber das werde ich Kathrin bestimmt nicht auf die Nase binden, denn dann hab ich nie mehr Ruhe vor ihr. Sie meint sowieso, dass sie uns tagein, tagaus irgendwelche Ratschläge geben muss. Vor allem mir, da ich als ihre Arbeitskollegin in ständiger Reichweite bin. Ein besonderes Lieblingsthema von ihr ist, dass ich mich zuviel der Musik widme und mich mal lieber auf andere Dinge konzentrieren sollte…

„Du solltest nicht immer nur an deine Band denken!", fängt sie da auch schon an, und ich stöhne innerlich auf. Jetzt kommt wieder die alte Leier, und ich schalte schon einmal meine Ohren auf Durchzug.

„Wirklich war, du bist noch jung, geh doch aus und such dir einen Freund, einen netten jungen Mann, damit du auch mal an etwas anderes denkst, als ans Komponieren und Songschreiben. Ist doch kein Leben so!"

„Kathrin, bloß weil du bis über beide Ohren in Jens verknallt bist, musst du mir noch lange nicht Ratschläge mein Liebesleben betreffend geben. Wenn ich jemanden treffe, ist's gut, aber ich werde definitiv nicht auf die Suche nach irgendeinem Mann gehen!" Ich stelle die Kaffeetasse auf ein Tablett und mache mich auf den Weg zu unserem Gast. Wenigstens labert er mich nicht mit irgendwelchen Pseudo-Ratschlägen voll!

Er bedankt sich freundlich, als ich die Kaffeetasse vor ihm auf den Tisch stelle, und ich schenke ihm mein strahlendstes Lächeln. Kathrin schaut mich nur finster an, als ich an den Tresen zurückkehre, und pustet sich eine Locke ihres haselnussbraunen Haars aus der Stirn. „Ich versuche nur, dir zu helfen. Was machst du denn, falls es mit deiner Musik nicht klappt und du für den Rest deines Lebens auf der Straße stehst? Dann hast du deine ganze Jugend weggeworfen!"

„Jaja." Da ich mir diese Lektüre mindestens zweimal pro Woche anhören muss, bin ich inzwischen immun dagegen. „Keine Panik, ich werde schon irgendwie meine Jugend genießen können. Meine Definition von Genuss ist halt nur eine andere als deine!"

„Cath…"

„Keine weitere Diskussion!" Ich unterbreche sie, bevor sie wieder von vorne anfängt. Kathrin kann ein echter Nervbolzen sein, da ist mir Jasmin, die andere Kollegin, die erst heute Mittag zur Schicht kommt, wesentlich lieber – sie lässt die Dinge wenigstens in Ruhe.

Gott sei Dank scheint sie meine Warnung ernst zu nehmen, und hält für den Rest des Morgens den Mund – wenigstens über dieses Thema. Dafür bekomme ich die neueste Geschichte über ihren Freund zu hören, die Story von ihrer Katze, welche es geschafft hat, sich im Wäschekorb einzusperren und ihre Beschwerde über diesen verdammten Vermieter, der es nicht fertig bringt, die Haustüre zu reparieren. Still ist es niemals mit Kathrin zusammen, und dann ist es mit dem Frieden auch schon vorbei, als mehr und mehr Gäste kommen, die unsere ganze Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen. Bald tun mir meine Füße weh, aber Zeit zum Beschweren habe ich nicht.

~~~~~~

Es ist später Nachmittag, als ich mich endlich auf den Heimweg mache. Im Laufe des Tages hat sich das Wetter verschlechtert, und dunkle Wolken ziehen auf. Ich laufe schneller, denn ich habe nicht die geringste Lust, nass zu werden. So ein Mist, heute Morgen schien es noch so schön, und nun? Ich seufze und wickle mich fester in die dünne Stoffjacke, als ich durch die Straßen eile. Natürlich ist mir der Bus wieder vor der Nase weggefahren und ich habe keine Lust, eine halbe Stunde auf den nächsten zu warten.

Mein Heimweg führt mich durch den alten Park, ein wunderschöner Ort, voller alter Kastanienbäume, unter denen sich im Sommer die Leute tummeln. Jetzt ist er allerdings wie ausgestorben. Eine Windböe fährt durch die Äste und ich spüre erste, kalte Regentropfen in meinem Gesicht. Na toll. Echt genial. Ich beeile mich noch mehr, als ich auf einmal ein Geräusch höre.

Verwirrt bleibe ich stehen und lausche. Habe ich mich geirrt? Nein, da ist es wieder! Ich neige den Kopf, als ich erkenne, was für ein Geräusch es ist. Jemand singt!

Ich blicke mich um, doch kann niemanden sehen, als folge ich der Stimme. Je näher ich komme, desto eher kann ich die Worte ausmachen, und ich bin überrascht, als ich die traurige Melodie erkenne. Es ist ‚Stairway to Heaven' von Led Zeppelin, ein altes, aber sehr schönes Lied.

…There's a feeling I get
When I look to the west,
and my spirit is crying for leaving.
In my thoughts I have seen
rings of smoke through the trees,
and the voices of those who stand looking…

Es ist eine tiefe Frauenstimme, und obwohl sie sich kratzig und ungeübt anhört, ist sie doch kraftvoll und überzeugend. Die traurige Stimmung des Liedes kommt jedenfalls perfekt rüber. Inzwischen ignoriere ich die Tropfen, die auf meinen Kopf fallen, sondern suche nur nach der Person, zu der diese Stimme gehört. Ich möchte wissen, wer das ist, möchte mehr hören, und vielleicht die Chance nutzen, endlich ein viertes Bandmitglied zu finden. Also folge ich den Worten, renne durch den Park, immer dieser traurigen Stimme folgend.

….And it's whispered that soon
if we all call the tune,
then the piper will lead us to reason.
And a new day will dawn,
for those who stand long,
and the forests will echo with laughter…

Die Worte werden klarer und ich kann endlich eine Person sehen. Sie sitzt auf einem Baum, deshalb ist sie mir nicht gleich aufgefallen, auf einem der alten und großen Kastanienbäumen mit den breiten Ästen. Langsam trete ich näher und nehme alles in mich auf; die dunkle Kleidung, die ausgelatschten Turnschuhe und das bleiche, müde Gesicht. Sie ist jung, wahrscheinlich jünger als ich, doch sie sieht irgendwie….fertig aus. Neben ihr liegt ein großer Trekkingrucksack, der prall gefüllt ist.

Sie hat mich noch nicht bemerkt; mit geschlossenen Augen singt sie weiter.

…If there's a bustle in your hedgerow,
don't be alarmed now,
it's just a spring-clean for the May queen.

Yes, there are two paths you can go by,
but in the long run,
there's still time to change the road you're on…

Ich warte, lausche ihren Worten, lausche der Melodie, die sie so wunderbar klar singt, und stelle mir gleichzeitig vor, wie es wäre, wenn dieses Mädchen unsere Lieder singen würde. Es passt perfekt, und mir wird gleichzeitig heiß und kalt bei dem Gedanken, endlich eine passende Solo-Sängerin gefunden zu haben.

….And it makes me wonder.

Your head is humming and it won't go,
in case you don't know,
the piper's calling you to join him.

Dear lady can you hear the wind blow,
and did you know
your stairway lies on the whisp'rin' wind….

Sie hat braunes, strähniges Haar und Ringe unter den Augen. Was macht sie bloß hier, beginne ich mich zu fragen, als mir auffällt, wie schmutzig sie ist. Ist sie etwa ein Penner? Lebt sie auf der Straße? Oder ist sie vielleicht sogar ein Junkie?

Bei dem Gedanken wird mir ganz anders. Stimme und so in allen Ehren, aber eine Drogensüchtige möchte ich nicht in der Band haben. Das würde die ganze Atmosphäre zerstören, und auf solche Leute kann man sich auch nicht verlassen. Ich warte schweigend, während sie weiter singt. Der Himmel wird immer dunkler und die Regentropfen fallen nun dichter, doch unter dem Blätterdach des Baumes ist es relativ trocken.

….And as we wind on down the road,
our shadows taller than our soul,
there walks a lady we all know
who shines white light and wants to show
how everything still turns to gold.
And if you listen very hard,
the tune will come to you at last,
when all are one and one is all (yeah),
to be a rock and not to roll.

And she's buying a stairway to heaven.

Das Lied endet, und sie öffnet ihre Augen, mich zum ersten Mal wahrnehmen. Sofort kann ich erkennen, wie eine Veränderung in ihrem Gesicht vor sich geht. War sie vorhin noch weich, traurig und verletzlich erschienen, so verhärten sich nun ihre Züge und sie starrt mich finster aus ihren grünen Augen an.

„Hallo!", sage ich und komme mir irgendwie blöd vor. „Ehm….ich habe dich singen gehört."

„Na und?" Ihre Stimme ist rau und unhöflich.

Was, na und? Muss sie sich denn so seltsam benehmen? Ich bin etwas befremdet von dieser Einstellung, entscheide aber, dass mein Stolz im Moment nicht so wichtig ist.

„Nun, es hat mir gefallen."

Sie blickt mich an, und ich kann regelrecht sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitet. „Danke.", sagt sie schließlich und dreht ihren Kopf weg. Oh, sie hat Manieren. Welch Wunder.

„Die Sache ist die…" Ich räuspere mich, unsicher, wie ich es erklären soll. „Ich singe selber, und zwar in einer Band. Uns fehlt aber noch jemand, und du wärst die richtige Person mit der richtigen Stimme. Hättest du nicht Lust?" Lieber gleich auf das Thema sprechen zu kommen, als um den heißen Brei herumzureden. Wenn sie ein Junkie ist, finden wir das noch früh genug heraus.

Anscheinend hat sie keine Lust, denn sie blickt mich an, als ob ich von wilden Affen gebissen wäre. „Nee, kein Bedarf!" meint sie dann schließlich und schultert ihren Rucksack. Mit einer einzigen, eleganten Bewegung springt sie vom Ast und landet neben mir.

„Aber warum denn nicht? Du singst echt gut!"

„Weil ich nicht will." Sie dreht mir den Rücken zu und blickt in den Himmel. Es regnet stärker, und selbst unter dem schützenden Blätterdach beginnen wir die Nässe zu spüren. Es ist echt zum Haare raufen! Da finde ich eine geeignete Person, um bei uns mitzusingen, und dann will diese nicht! Argh!

„Ach komm schon, du singst doch gerne, oder?" Ich versuche sie zu überreden, doch sie ignoriert mich völlig und läuft in den strömenden Regen.

Meine Welt zerspringt genau in diesem Augenblick, und ich fühle den unwiderstehlichen Drang, irgendetwas in kleine Stücke zu hauen. Aber ich bin niemand, der klein beigibt, und ich werde dieses Mädchen irgendwie dazu kriegen, bei uns mitzusingen. Langsam schließe ich die Augen, hole tief Luft und beginne, meine neueste Komposition zu singen, mit aller Überzeugungskraft, die ich im strömenden Regen aufbringen kann. Meine Worte tragen durch das plätschernde Nass, und ich kann sehen, wie sie stehen bleibt, als sie endlich ihr Ohr erreichen.

….Everyone is laughing, smiling, happily

Acting like a big, grand family

Only me, who's not a part of this,

Only me, feeling like a big misfit….

Irgendwie glaube ich, dass die Worte auf sie zutreffen, und deshalb singe ich weiter, stehe im strömenden Regen, immer noch in meinem Kellnerinnen-Outfit, welches inzwischen trieft vor Nässen, und singe. Ich singe, um sie zu überzeugen, um ihr zu zeigen, dass unsere Musik es wert ist, und vielleicht singe ich auch einfach nur, weil es mir Spaß macht.

Der Regen ist vergessen, und ich nehme auch ihre Präsenz gar nicht mehr war, sondern konzentriere mich nur auf die Melodie und die Worte. Wie immer, wenn ich singe, falle ich in eine Art Trance. Es gibt nur mich und die Musik, und alles andere ist unwichtig.

Then they came and took me away

Asked me questions I couldn't answer

They searched through your body and examined the wound

cleaned the blood from the ugly, grey ground

And I was still sobbing, like a child, left alone

Fortsetzung folgt….

Um Kommentare wird gebeten^^