Himmelslichter

Mommy erzählte mir immer von den Engeln, Boten und Dienern Gottes, Überbringer von Nachrichten und wichtigen Aufträgen.

Aber Mommy sagte, sie hätten noch eine andere große Aufgabe, und die sei vielleicht noch bedeutender, aber schwieriger auszuführen, als starrköpfige Menschen auf den richtigen Pfad zu bringen.

Jeder Mensch hat von seiner Geburt an einen Schutzengel an seiner Seite – manche, wie der kleine Jakob von nebenan, dessen Vater manchmal so wütend war, hätten auch viele.

Aber ich brauche keinen Schutzengel. Ich hab ja Daddy."

Ich war so stolz auf meinen Daddy. Obwohl er oft lange arbeiten war, wusste ich doch, dass er Mommy und mich ganz dolle lieb hatte. Manchmal, wenn Mommy mich schon lange ins Bett gebracht hatte, kam er noch zu mir. Er steckte die Decke mit seinen großen sanften Händen wieder um mich fest und gab mir einen Kuss. Sein Bart krabbelte, aber ich mochte das. Wenn ich wach wurde, kuschelte ich mich an ihn und er erzählte mir noch eine Geschichte oder sang mir mein Schlaflied vor. Es hatte viele, viele Strophen, denn er erfand oft neue. Aber eine sang er mir immer am Schluss vor:

Der Mond schaut durch das Fenster rein.

Du kannst sein Gesicht wohl sehn.

Drum schlafe ruhig, mein Kindelein,

musst morgen früh aufstehen.

Mit dem Mond war das wie mit den Engeln von Mommy – sie waren meine Beschützer und Begleiter; selbst wenn sie nicht sichtbar waren, glaubte ich, dass sie an meiner Seite blieben.

Stimmt, Daddy und ich passen gut auf dich auf. Aber manchmal sind wir nicht in deiner Nähe und dann ist dein Schutzengel da. Weißt du noch, als du im Sommer auf den Baum geklettert bist, obwohl Daddy gesagt hat, du sollst nicht, weil der Ast morsch war?"

Ich musste auf den Baum klettern, schließlich war mein Ball in die Krone geflogen und wollte von alleine nicht wieder herunterkommen. Der Ast war unter meinem Gewicht abgebrochen und ich war hart auf dem Boden aufgekommen. Daddy hatte furchtbar mit mir geschimpft. Doch als er sah, dass ich mir nichts getan hatte, war er sehr erleichtert.

Damals hat dein Schutzengel dich davor bewahrt, dir irgendetwas zu brechen, was noch mehr weh getan hätte als der blaue Fleck auf deinem Po. Und der Fleck war sein Zeichen an dich, dass du mehr auf dich aufpassen musst."

Oh ja, ich wusste nicht, wie ich sitzen sollte. Ich glaube, dass mach ich nicht noch einmal."

Damals hatte Mommy gelacht. Ich mochte ihr Lachen. Manchmal war es hell und leise, machmal dumpf grollend, vor allem wenn sie ein wenig böse auf mich war und doch nicht umhin konnte, über meine Auswüchse zu lachen. Und manchmal war es klar und laut wie Glockenklang.

Als ich etwas größer war, hat sie mir eine andere Geschichte von den Engeln erzählt. Ich hatte sie nach den Sternen gefragt, weil unsere Lehrerin gemeint hatte, sie seien nur leblose Gesteinsbrocken, die das Licht der Sonne reflektieren würden.

Aber etwas so Schönes konnte doch nichts Bedeutungsloses sein. Außerdem – wie sollte die Sonne in der Nacht die Sterne bescheinen? Mommy erklärte mir, dass das ginge, geglaubt hatte ich ihr nicht. Da berichtete sie mir von der Geschichte, die ihre Mommy, meine Granny Beth, ihr erzählt hatte, als sie noch klein gewesen war.

Wenn Menschen sterben, dann werden ihre Körper in die Erde zurückgegeben, aus der sie stammen. Ihre Seelen aber steigen hinauf in den Himmel und entfachen ein Feuer, das niemals verlöscht, solange es unten auf der Erde noch eine verwandte Seele gibt. Und damit diese Seele ihren Weg auch in der Nacht findet, wenn es dunkel ist in der Menschenwelt, leuchten sie so hell wie kleine Sonnen. Und die Engel geben darauf acht, dass die Seelenfeuer immer an ihrem Platz bleiben, damit sie ihren Schützlingen den Weg weisen können.

Auch ich werde einmal einen Platz im Himmel einnehmen und auf dich herabscheinen. Dann wirst du zu mir hoch schauen und wenn du lächelst, weiß ich, dass es dir gut geht. Und wenn es dir mal schlecht geht, werde ich noch heller scheinen, damit du dir nicht verloren gehst."

Ich mochte Granny Beths Geschichte sehr, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass meine Mommy und mein Daddy mal auf mich herunterscheinen würden. Aber dennoch war es ein tröstlicher Gedanke.

Vor allem denke ich heute so, wenn ich in den Himmel schaue. Jetzt ist nur noch mein Schutzengel an meiner Seite, denn Mommy und Daddy haben Sternenlicht entfacht. Aber das ist gut so, denn ich weiß, sie sind da. Und vor allem in der Winterzeit, wenn es so lange dunkel und kalt ist, wärmt mich ihr Licht von innen. Und ich höre Mommys Lachen und Daddys Lieder.